provenzalische Sprache

provenzalische Sprache
provenzalische Sprache,
 
zu den romanischen Sprachen gehörende Sprache, die im südlichen Drittel des französischen Staatsgebiets in mehreren Mundarten gesprochen wird und sich aus dem südlich der Loire gesprochenen Vulgärlatein entwickelt hat. Einzelne Sprachinseln außerhalb Frankreichs bestehen u. a. in Spanien (Arántal) und in Italien (Westalpen). Die Zahl der Sprecher wird unterschiedlich angegeben; die Schätzungen liegen zwischen 1,1 Mio. (aktive Sprecher) und 10-12 Mio. (Personen, die die provenzalische Sprache verstehen).
 
Man unterscheidet drei große Dialektgruppen: 1) Nordokzitanisch (mit dem Limousinischen, Auvergnatischen und dem Delfinatischen, dem in der Dauphiné verbreiteten Dialekt; im nördlichen Teil der Dauphiné das Frankoprovenzalische, dessen Lautstand durch eine Mittelstellung zwischen Französisch und Provenzalisch gekennzeichnet ist); 2) Südokzitanisch (mit den Mundarten des Languedoc und der Provence im engeren Sinn); 3) Gascognisch.
 
Die provenzalische Sprache ist gegenüber dem Französischen durch konservativen Charakter (in der Bewahrung lateinischer Vokale und Konsonanten aufgrund intensiver Romanisierung, französische Sprache) und das Fehlen eines nennenswerten germanischen Superstrats gekennzeichnet. Das Nordokzitanische grenzt sich durch die Palatalisierung von lateinischem c und g vor a vom Südokzitanischen und vom Gascognischen ab, z. B. lateinisch cantat »er singt«, nordokzitanisch chanta [tʃanta], südokzitanisch canta; lateinisch gallina »die Henne«, nordokzitanisch jalina [dʒalina], südokzitanisch galina. Das im Ganzen konservativere Südokzitanische weist v. a. im Teilbereich des Languedokischen sprachlichen Eigentümlichkeiten auf, die die Sonderstellung dieser Mundart beweisen, z. B. den Ausfall des sekundär auslautenden -n (lateinisch panem über vulgärlateinisch pan zu languedokisch pa), die Bewahrung der auslautenden stimmlosen Verschlusslaute (lateinisch lupum, languedokisch lop [lɔp]) und die bilabiale Lautung des v (wie im Gascognischen und Katalanischen). Im Gascognischen wird u. a. lateinisch f zu (gesprochenem, nur vorkonsonantisch verstummtem) h, z. B. lateinisch filia »Tochter«, gascognisch hilha [hilja].
 
Die altprovenzalische Literatursprache (10.-13. Jahrhundert) war eine v. a. auf den westlich der Rhône gesprochenen Mundarten basierende Kunstsprache; als Sprache der Troubadours wurde sie auch von Minnedichtern in Italien und auf der Iberischen Halbinsel verwendet. Häufig wurde sie im Mittelalter auch als »lemosi« (Limousinisch) bezeichnet, da viele Troubadoure aus dem Limousin stammten und man die Sprache der Troubadourdichtung als aus der Mundart des Limousin hervorgegangen ansah. Seit dem 13. Jahrhundert war auch die Bezeichnung »proensal« (Provenzalisch) geläufig (nach den Bewohnern der römischen Provincia Narbonensis). Der Name »Langue d'oc« für das Südfranzösische wurde nach der südfranzösischen Bejahungsformel »oc« (aus lateinisch hoc) geprägt und zuerst von Dante (als »lingua d'oco«) in diesem Sinne verwendet. Die romanische Sprachwissenschaft bezeichnet die Kunstsprache der Troubadours als Altprovenzalisch. Im 19. Jahrhundert wurden, ohne Anknüpfung an das Altprovenzalische, moderne Mundarten für die Dichtung der Félibres verwendet; Grundlagen für die neuprovenzalische Literatursprache waren die östlich der Rhône gesprochenen Dialekte. Die provenzalische Sprache in ihren verschiedenen dialektalen Ausformungen wird heute zunehmend als okzitanische Sprache (Okzitanisch) bezeichnet.
 
Nach der Hochblüte der provenzalischen Sprache im Mittelalter ging ihre Bedeutung und Verbreitung durch das Edikt von Villers-Cotterêts (1539), durch das das Französische zur alleinigen Verwaltungssprache bestimmt wurde und wodurch die ererbte schriftsprachliche Norm der provenzalischen Sprache außer Gebrauch kam, zurück. Verstärkt wurde dieser Rückgang durch die Französische Revolution, in deren Folge die Ausdehnung der aktiven Beherrschung der französischen Sprache auf die gesamte Bevölkerung des französischen Staates gefordert wurde und die planmäßige Durchsetzung des Französischen im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht erfolgte. Eine Wiederbelebung der provenzalischen Sprache vollzog sich in der Romantik. Zugleich setzten Bemühungen um eine Vereinheitlichung der Sprachnorm ein, die im 20. Jahrhundert fortgeführt wurden, v. a. durch das »Institut d'études occitanes« (IEO; gegründet 1945), das die Verbreitung der okzitanischen Sprache und Literatur fördert.
 
 
E. Koschwitz: Grammaire historique de la langue des Félibres (Greifswald 1894, Nachdr. Genf 1973);
 C. Appel: Provenzal. Lautlehre (1918);
 E. Levy: Petit dictionnaire provençal-français (Heidelberg 51973);
 O. Schultz-Gora: Altprovenzal. Elementarbuch (61973);
 L. Alibèrt: Gramatica occitana. Segón los parlars lengadocians (Montpellier 21976);
 J. Salvat: Gramatica occitana des parlers lengadocians. Grammaire occitane des parlers languedociens, bearb. v. E. Nègre (Toulouse 41978);
 J. Boisgontier: Atlas linguistique et ethnographique du Languedoc oriental, 3 Bde. (Paris 1981-86);
 G. Kremnitz: Das Okzitanische. Sprachgesch. u. Soziologie (1981);
 R. Chatbert: Questions de lenga (Albi 1983);
 B. Durand: Grammaire provençale (Marseille 61983);
 R. Lafont: Eléments de phonétique de l'occitan (Valderiès 1983);
 N. B. Smith u. T. G. Bergin: An Old Provençal primer (New York 1984);
 F. Jensen: Syntaxe de l'ancien occitan (a. d. Engl., Tübingen 1994);
 P. Bec: La langue occitane (Paris 61995).

Universal-Lexikon. 2012.

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